"Nebel im August" - Lesung von Robert Domes

"Nebel im August" - Lesung von Robert Domes

Die Berufsschule Ostallgäu hat bereits im Schuljahr 2017/18 begonnen, das Thema Werte mit den Schülern beständig aufzugreifen. Vor den Weihnachtsferien gibt es seither jedes Schuljahr verschiedene Projekte in allen Klassen, die Werteerziehung in den Mittelpunkt stellen und bei denen wir ins Gespräch kommen, welche Werte uns in der Schulgemeinschaft wichtig sind. Dabei sprechen wir auch darüber, wie wir im Schulhaus miteinander umgehen und was uns als Gemeinschaft wichtig ist. Seit diesem Schuljahr nimmt die Berufsschule Ostallgäu auch am Schulversuch „Werte.BS - Werte und Demokratie an der Berufsschule erfahren und erleben“ teil.

Verschiedene weitere Aspekte - wie etwa die Leseförderung - standen nun am 12. Dezember 2019  beim Besuch des Autors Robert Domes bei seiner Lesung neben der Werteerziehung im Mittelpunkt. 
Welche Geschichte hat unsere Region? Was geschah vor 75 Jahren in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee? Wie ging man während der NS-Diktatur mit Minderheiten um? Und was bedeutete das Euthanasie-Programm für einen Jungen wie Ernst Lossa, die Titelfigur des Romans?

Robert Domes begann seine Lesung zunächst mit der Entstehungsgeschichte des Buches. Dem in Irsee bei Kaufbeuren lebenden Autor und ehemaligen Redakteur der Allgäuer Zeitung zeigte 2002 Michael von Cranach, damals ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, die Krankenakte Ernst Lossas mit den Worten: „Da hab’ ich Stoff für Sie“. Von Cranach hatte sich intensiv mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des BKH, mit seinem Vorgänger während der NS-Zeit,  Valentin Faltlhauser, und den damaligen Euthanasie-Vorfällen beschäftigt: Der jenische Junge starb 14-jährig in Irsee. Die Nationalsozialisten betrachteten ihn als „lebensunwert“, er war eines von etwa 200.000 deutschen Euthanasie-Opfern. 

Etwa 5 Jahre recherchierte Domes, bis er zu schreiben begann und aus den ihm bekannten Fakten einen Roman entstehen ließ, der die Handlung nicht aus Ernsts Ich-Perspektive skizziert, aber stets das Geschehen aus seinem Blickwinkel zeigt. 

Zunächst schilderte der Autor die Lebensumstände von Lossas Familie, so genannten Jenischen, die mit Hausieren ihr Geld verdiente und die später nach der nationalsozialistische Rassenlehre als „Zigeuner“ verfolgt wurden. Ernst war der Älteste von 4 Geschwistern; er und seine zwei Schwestern wurden  den Eltern 1933 von den Nationalsozialisten weggenommen und in einem Kinderheim untergebracht. Die Mutter starb, als er 4 Jahre alt war, der Vater wurde später Opfer in einem KZ. 1940 kam Lossa wegen „Unerziehbarkeit“ in das Jugenderziehungsheim Indersdorf, im April 1942 wurde er zwangsweise in die ‚Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren‘ eingewiesen, in der Euthanasie-Morde und auch gezielte Tötungen von Patienten vorgenommen wurden, im Mai 1943 wurde er in die ‚Zweiganstalt Irsee‘ verlegt. (Die Euthanasiemorde erfolgten durch Injektionen mit überdosierten Medikamenten oder durch Verhungernlassen durch Unterernährung.)

Nach dieser Einführung begann der Autor bei seiner Lesung mit der ersten Seite des Buches und 125 Zuhörer folgten ihm gebannt: „Sanftes Schaukeln, fast wie in einer Wiege. In Ernsts Ohren das Singen der Räder und der Takt, den die Hufe machen. Helles Licht ...“. 

In verschiedenen Episoden wurde nun nach und nach Ernsts Leben lebendig und anschaulich, wir konnten uns vorstellen, was passierte, wie es dem Jungen ging. Von Szene zu Szene wurde die Situation für den auf sich alleine Gestellten schwieriger. Die Verhältnisse zu anderen Kindern und Jugendlichen skizzierten teilweise kleine Lichtblicke, aber oft auch die Unbarmherzigkeit und Grausamkeit des damaligen Systems. 

Der als „asozialer Psychopath“ abgestempelte Ernst Lossa starb laut Leichenschein an einer Lungenentzündung etwa zwei Jahre nach seiner Einweisung in Kaufbeuren/Irsee - er starb am 9. August 1944 qualvoll an zwei Morphiumspritzen. Sein Todeskampf hatte fast einen ganzen Tag gedauert.

Die Schüler der fünf anwesenden Berufsschulklassen folgten Robert Domes während der Lesung sehr ruhig, die Worte hinterließen sichtlich einen starken Eindruck. 

Der Autor ging dann auf die Verfilmung des Buches ein und zeigte einen kurzen Filmausschnitt.

Anschließend folgte eine Fragerunde. Die Schüler wollten weitere Details wissen, die Robert Domes aufgrund seiner Recherchen und der langjährigen Auseinandersetzung mit der Thematik ausführlich erklären konnte. Vor allem kamen Fragen zu Lossas Familie. Seine beiden Schwestern überlebten. Der Autor schilderte, wie seine Aufarbeitung von Ernsts Lebensgeschichte dessen Schwester half, neues Selbstbewusstsein und Würde wiederzufinden und ihren eigenen Wert zu erkennen. 

Bevor die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit erhielten, sich auf einem Lesezeichen ein Autogramm  zu holen, wurden sie am Ende der Veranstaltung  erinnert, welche Bedeutung Erfahrungen früherer  Generationen für  sie persönlich haben können. Ein Spruch aus dem Talmud rundete diesen Aspekt ab: 

Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. 

Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. 

Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. 

Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. 

Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal!“

                                                                                    Talmud

 

Elke Bolg

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